Superkräfte hinter alten Steinmauern
Man nehme kreative Köpfe, lasse die Ideen sprudeln und stelle einen magischen Ort wie die Wiener Neustädter Kasematten bereit. Schon wird aus einem einstigen Mauerblümchen eine coole Festivalstadt, wie „Milch & Honig“ und das „Bösendorfer-Festival“ auch 2025 beweisen.
Wenn sie, sagte die grandiose Wiener Singer/Songwriterin Anna Mabo einmal sinngemäß, ihre Gitarre bei und ein Mikrofon vor sich habe, verspüre sie eine Art Superkraft. Das kommt auch in ihrem bisherigen Schaffen zum Ausdruck, das ein Kapazunder wie Ernst Molden mit dem Attribut „beschwipsend virtuos“ bezeichnet hat. Das 29-jährige Multitalent, das am Reinhardt-Seminar das Fach Regie abgeschlossen und an namhaften Häusern Stücke von Hesse bis Ionesco inszeniert hat, fühlt sich in der Musik pudelwohl, zieht Kraft daraus und beschenkt das Publikum im Gegenzug mit „einzigartiger Unverblümtheit in einer Wundertüte“, wie Bernhard Flieher, Kulturredakteur der „Salzburger Nachrichten“, einmal so treffend schrieb.
Deshalb musste Christoph Zimper, künstlerischer Leiter des Festivals „Milch & Honig“ in Wiener Neustadt, auch nicht lange nachdenken, wen er für die dritte Auflage des Formats „composer as we know him“ anfragen sollte. Ein Format, das klassische mit populärer Musik auf außergewöhnliche Weise verwebt und in dem in den Jahren davor der amerikanische Gitarrist und Sänger Bryan Benner bei „Schubert as we know him“ und die Strottern bei „Beethoven as we know him“ brilliert hatten. 2025 steht „Mendelssohn as we know him“ auf dem Programm, und dafür ist für Zimper Anna Mabo die ideale Ergänzung 28 aus dem Bereich der Popularmusik: „Sie hat diesen zeitgemäßen Schmäh, der unsere Generation widerspiegelt. Aber sie trifft nicht nur den Duft dieses Schmähs irrsinnig gut, sondern ihre Lieder lassen sich auch mit dem Werk von Mendelssohn wunderbar verweben, das auch sehr spritzig, jugendlich und ein bisserl spitz ist.“
Anna Mabos „Ja“ zu diesem Crossover-Projekt kam à la minute: „Musik ist ja eine Form der Kommunikation, und Neues lernt man nur, wenn man dem Gegenüber zuhört. Gerade wenn es Projekte sind, die das Genre sprengen, bin ich deshalb sofort dabei. Die eigenen Lieder kennt man ja schon. Die Neugierde, wohin die bekannten Lieder wachsen können, wenn jemand an - derer sie gießt, mit einer anderen musikalischen Ausbildung, Geschichte und Vision, ist der Antrieb, bei so etwas wie Milch & Honig ohne zu zögern zuzusagen.“ Dabei ist die Künstlerin nicht nur auf die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Mendelssohns gespannt, sondern dieses Format ist für sie auch in Bezug auf ihre eigenen Lieder hoch - interessant: „Es braucht bei so einer Zusammenarbeit auch einen frischen Blick auf das eigene Werk. Ich habe das Gefühl, ich begegne meinen eigenen Texten in der gemeinsamen Vorbereitung auf das Konzert mit mehr Wachheit, und das macht mir viel Freude.“ Eine Freude, die am 30. Oktober gewiss auch das Publikum mit ihr teilen wird.
So wie sich „Milch & Honig“, dieses einzigartige kulturelle Spielfeld, auf dem die Erfahrung Konzert immer wieder ganz neu gedacht wird, zu einem Markenzeichen Wiener Neustadts entwickelt hat, trifft das auch auf ein anderes Festival zu, das 2025 in seine bereits sechste Saison geht: Das vom berühmten Pianisten Florian Krumpöck gegründete „Bösendorfer-Festival“, das - wie auch „Milch & Honig“ - im Zeichen von Verschmelzungen steht, wenn auch auf andere Art.
Da der weltberühmte Klavierbauer seinen Sitz in Wiener Neustadt hat, ist eine derartige Veranstaltung eigentlich naheliegend. Aber Pianist und Festival-Intendant Krumpöck denkt dieses Event nicht nur im Zeichen der Tasten: „Die Grundidee des Festivals ist es, quer durch alle Genres berühmte Leute, Publikumslieblinge rund um das Klavier zu versammeln. Also auch Schauspieler einzubinden wie Heinz Marecek oder Senta Berger, die das Festival 2025 eröffnet. Und es ist schön zu sehen, wie gut das angenommen wird.“
Neben Senta Berger konnte Krumpöck eine andere Grande Dame des Showbusiness für das „Bösendorfer-Festival“ gewinnen. Weltstar Ute Lemper, die mit 23 Jahren als Sally Bowler in „Cabaret“ von den Medien als die neue Marlene Dietrich gefeiert worden war und die später am Broadway und den namhaften Bühnen rund um den Planeten Weltkarriere machte. Die heute 62-Jährige tritt in den Kasematten in Wiener Neustadt, begleitet vom Starpianisten Vana Gierig, mit ihrem Programm „Rendezvous mit Marlene“ auf, und das führt zurück zum aufgehenden 23-jährigen Musical-Stern Lemper. Der war der Vergleich mit der Dietrich damals so unangenehm gewesen, dass sie sich brieflich bei der bereits 87-jährigen Diva entschuldigte - und prompt wenig später einen Anruf von ihr erhielt, der fast drei Stunden dauerte und der heute den Kern von „Rendezvous mit Marlene“ bildet.
Ute Lemper singt dabei nicht nur mit ihrem unverwechselbaren Timbre Lieder von Marlene Dietrich, sie stellt auch szenisch Teile dieses Telefonats dar, das sie damals in so vielerlei Hinsicht tief beeindruckt hatte: „Ich habe ihre Melancholie, ihren Zynismus und ihre Bitterkeit wahrgenommen. Aber ich musste selbst eine erfahrene Schauspielerin werden, damit ich sie verstehen und in ihre Seele eintauchen kann“, sagte sie in einem Interview. Wahrscheinlich hat Ute Lemper auch deshalb 30 Jahre gewartet, ehe sie mit ihrem „Rendezvous mit Marlene“ auf die Bühne ging. Dass sie das nun auch in Wiener Neustadt tut, ist ein großes Kompliment für das „Bösendorfer-Festival“. Und ein weiterer Beweis dafür, dass sich diese Stadt in den vergangenen Jahren zu einer richtig coolen Festival-Adresse entwickelt hat.