Von der Neustadt nach halb Europa
Lok Fanny war eine Werkslokomotive und diente nur dem innerbetrieblichen Transport. Sie war bis zum Ende der Produktion im Jahr 1966 im Einsatz.
Sie steht – erhöht – an der Kreuzung Pottendorfer Straße / Stadionstraße und ist eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. Ihr Name: Fanny. Eine Werkslokomotive, die heuer ihren 155. Geburtstag feiert und sich auf dem Gelände der ehemaligen Wiener Neustädter Lokomotiv-Fabriks AG (LOFAG) befindet. „Diese war neben Austro Daimler ein Leitbetrieb Wiener Neustadts“, erklärt Sabine Schmitner-Laszakovits, Mitarbeiterin im Stadtarchiv. „Die Fabrik steht symbolisch für die sprichwörtliche Ära von Dampf und Rauch. Sie läutete die Ära der metallverarbeitenden Industrie ein, die prägend für Wiener Neustadt wurde.“
Könnte Fanny reden, hätte sie einiges zu erzählen. Vom rasanten Aufstieg und dem wirtschaftlichen Niedergang des Werkes, von Kriegen, Krisen und Katastrophen. Als Fanny im Jahr 1870 gebaut wurde, stellte man im Werk bereits die 1.000ste Lokomotive her; das Unternehmen zählte damals mehr als 2.000 Beschäftigte. Begonnen hatte man 38 Jahre zuvor mit insgesamt 36 Arbeitern. „Die Lokomotivfabrik profitierte vom europaweiten Ausbau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert“, erzählt Sabine Schmitner-Laszakovits. Immer wieder erwarb man rund um das alte Areal neues Bauland, um darauf weitere Fabrikshallen zu errichten. Eng verbunden war die Produktionsstätte vor allem mit der Semmeringbahn, auf der viele Dampfmaschinen aus Wiener Neustadt eingesetzt wurden. Aufträge kamen aber auch aus Venetien, der Lombardei, aus Elsass-Lothringen und von einer oberschlesischen Kohlebahn. Lokomotiven aus Wiener Neustadt gingen sogar an russische und finnische Bahnen.
Als Folge des Börsenkrachs von 1873 brach die Nachfrage nach Lokomotiven ein, und es kam zu Massenkündigungen. Sabine Schmitner-Laszakovits: „Das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahr 1918 bedeutete einen weiteren massiven Einschnitt, da nun der große Markt im Inland wegfiel.“ Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise kam 1930 das endgültige Aus für die Lokomotivfabrik.
Einen unerwarteten Aufschwung erfuhr das Unternehmen durch den Zweiten Weltkrieg. „Gleich nach dem ‚Anschluss‘ im Jahr 1938 übernahm der deutsche Konzern Henschel & Sohn das stillgelegte Werk“, berichtet Sabine Schmitner-Laszakovits. „Der Betrieb war nun Teil der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie.“ Unter dem neuen Namen Rax-Werke stellte das Unternehmen Panzer- und Flakrohre her, später auch Teile der berüchtigten Rakete V2. Die sogenannte Serbenhalle, eine in Serbien geraubte und in Wiener Neustadt neu errichtete Halle, hatte eine Höhe von 30 Metern. Dies ermöglichte die Fertigung der V2-Raketen in aufrechter Position. Bis zu 1.200 KZ-Häftlinge mussten in den Produktionsstätten der Rax-Werke Zwangsarbeit verrichten.
Ab 1943 wurde das Industriegelände massiv von den alliierten Luftkräften bombardiert. Mit Kriegsende 1945 waren die Industrieanlagen weitest[1]gehend zerstört. Die Siegermacht Sowjetunion übernahm das Werk und produzierte fortan Kesselwagen, Eisenbahngüterwagen, Dampfkessel, Säurebehälter und Ankerwinden für Osteuropa, Nordafrika und Mittelamerika, aber auch Baumentrindungsmaschinen für Sibirien. Mit Unterzeichnung des Staatsvertrages im Jahr 1955 kam das Werk wieder unter österreichische Verwaltung, ehe es 1966 endgültig stillgelegt wurde.
Und Fanny? Sie konnte vor den Schrotthändlern gerettet werden und steht seit 1973 auf ihrem heutigen Platz. Zum 150. Geburtstag im Jahr 2020 wurde Fanny entrostet und frisch gestrichen. So kann sie auch in Zukunft die wechselvolle Geschichte der Lokomotivfabrik erzählen.