Eine ziemlich abgehobene Geschichte

Wiener Neustadt blickt auf eine mehr als 100-jährige Flugtradition zurück.

Hier wurde der erste Flugplatz Österreichs gebaut, und heute gilt die Stadt als bedeutendes Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik.

Es war ein wahrlich visionärer Plan, den der Wiener Neustädter Gemeinderat am 11. Juni 1909 beschloss: Kaum existierte das erste Motorflugzeug in Österreich, wurde nordwestlich der Stadt schon ein Flugplatz errichtet. Wortwörtlich hieß es damals: „Zum Zwecke der Förderung des mechanischen Flugwesens erbaut die Stadtgemeinde auf einem der am Steinfelde an der Wöllersdorfer Straße gelegenen Grundstücke eine Aeroplan-Halle um den Betrag von beiläufig 2.500 Kronen, stellt die in dieser Gegend liegenden Grundstücke zu Flugversuchszwecken den Mietern der Halle zur Verfügung und gestattet anderen Interessenten, ähnliche Hallen zu erbauen.“ Seit 1906 hatte die Heide zwischen Wiener Neustadt und Wöllersdorf als Landeplatz für Freiballone und Luftschiffe gedient. „Das ebene und karge Steinfeld war landwirtschaftlich nicht nutzbar. Daher bot es sich als ideales Flugfeld an“, sagt Historikerin Eveline Klein. „Auch die Nähe zur Hauptstadt Wien und die gute Bahnanbindung sprachen für Wiener Neustadt.“ Am 17. November 1909 wurde das Areal zum Flugplatz erklärt – es war dies der erste in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Befestigte Pisten gab es damals freilich noch nicht. Das Flugfeld war nicht mehr als eine gemähte Wiese. Dafür wurden fünf Quadratkilometer gerodet und geebnet. Bereits ein Jahr später, 1910, fand das erste Preisfliegen statt. Kaiser Franz Joseph war einer von 30.000 Zuschauern, die dem Treiben beiwohnten – der Monarch von einem eigens errichteten Kaiserpavillon aus. Flugpioniere wie Igo Etrich, Karl Illner und Adolf Warchalowski ließen sich von den Möglichkeiten in Wiener Neustadt anlocken und konstruierten hier neue Modelle. 1909 erprobte der Textilfabrikant Etrich sein Motorflugzeug Etrich II, mit dem die ersten Flüge gelangen. Eveline Klein: „Von den in Wiener Neustadt angesiedelten Austro-Daimler-Motorenwerken erhielt er dafür den ersten brauchbaren österreichischen Flugzeugmotor.“ Die sogenannte Etrich-Taube erreichte eine Rekordhöhe von mehr als 400 Höhenmetern. Durch den Ersten Weltkrieg gewann der Industrie- und Luftfahrtstandort Wiener Neustadt an strategischer Bedeutung. Bis zum Kriegsende 1918 wurden in der Oesterreichischen Flugzeugfabrik AG Kampfflugzeuge für die k.u.k. Luftfahrtruppen erzeugt, darunter die bekannten Albatros-D.III-Jagdflugzeuge, die mit Maschinengewehren ausgestattet waren. Hier entstanden auch erste erfolgreiche Hubschrauberkonstruktionen. Nach dem „Anschluss“ an Nazi-Deutschland im Jahr 1938 wurde der Flugplatz stark ausgebaut: Bis zu 17.000 Arbeiter fertigten nun Flugzeuge des Typs Messerschmitt Bf 109. Insgesamt 8.500 dieser Jagdbomber verließen im Zweiten Weltkrieg die Werkshallen. „Das war ein wesentlicher Mitgrund dafür, dass die Stadt durch feindlichen Bombenhagel fast vollständig in Schutt und Asche gelegt wurde“, berichtet Eveline Klein. Heute präsentiert sich Wiener Neustadt als das Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Niederösterreich. Neun internationale Top-Firmen sind hier angesiedelt, 1.500 Menschen arbeiten in dieser Branche. Die Fachhochschule Wiener Neustadt hat als erste Bildungseinrichtung in Österreich den Studiengang „Aerospace Engineering“ (Raumfahrttechnik) eingeführt. Mit „Pegasus“ gelang es der FH im Jahr 2017, einen eigenen Kleinsatelliten ins Weltall zu schicken. Die Luftfahrt stellt auch einen bedeutenden Freizeitfaktor dar. Wiener Neustadt beherbergt mehr als 20 Flugvereine mit etwa 1.000 Mitgliedern. Immer wieder wurden hier nationale und internationale Meisterschaften im Segelflug, Modellflug und Fallschirmspringen durchgeführt; zusätzlich fanden unzählige Flugtage, Flugmessen und Air-Shows statt. Befestigte Pisten gibt es auf dem Flugplatz Wiener Neustadt West bis heute nicht. Damit ist das Flugfeld der größte Naturflugplatz Europas – und gleichzeitig der älteste des Kontinents. Ob sich das wohl die Stadtherren von Wiener Neustadt anno 1909 haben träumen lassen?

ZEITSPRUNG

1906 Die Heide zwischen Wiener Neustadt und Wöllersdorf dient als Landeplatz für Freiballone und Luftschiffe

1909 Die Stadtgemeinde Wiener Neustadt lässt ein Flugfeld samt Hangars und Werkstätten errichten.

1909-1912 Zahlreiche Flugzeugbauer lassen sich am Flugfeld nieder und konstruieren neue Typen.

1910 Karl Illner absolviert mit der sogenannten Etrich-Taube den ersten österreichischen Überlandflug.

1913 Die k. u. k. Armee mietet das gesamte Areal.

1915 Ein zweiter Flugplatz, der Flugplatz Wiener Neustadt Ost, wird angelegt. Hier fertigt nun die Oesterreichische Flugzeugfabrik AG (OeFFAG) für das Militär.

1939-1945 Im Zweiten Weltkrieg werden in den Wiener Neustädter Flugzeugwerken Jagdflugzeuge des Typs Messerschmitt Bf109 gebaut.

2017 Die FH Wiener Neustadt schickt mit „Pegasus“ einen Forschungssatelliten ins Weltall.

Historikerin EVELINE KLEIN …

… kam 1958 im südlichen Niederösterreich zur Welt. Sie studierte in Wien Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte und machte danach eine Ausbildung zur Museumspädagogin. Seit 2008 leitet sie in Wiener Neustadt das Museum St.Peter an der Sperr. Sie ist verheiratet und hat drei Söhne. Eveline Klein begleitet das Stadtmagazin historisch.