Auf dem Reissbrett

Wiener Neustadt entstand nicht aus einer Siedlung, sondern wurde aus strategischen Gründen nach römischem Vorbild planmäßig angelegt – als stark befestigte Stadt inmitten der kargen Ebene des Steinfeldes.

Wir schreiben das Jahr 1192. Immer wieder dringen Völker aus dem Osten in die Ebene vor dem Wechsel und dem Semmering ein. Wien ist zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein und unbedeutend, sodass ein Verteidigungsbollwerk im Wiener Becken erforderlich ist. „Die neue Stadt sollte die dortigen Handelsstraßen vor Einfällen schützen und ein Stützpunkt für Reisende werden“, berichtet Historikerin Eveline Klein. Tatsächlich liegt „Civitas Nova“, die „Neuenstat“ oder „Neustatt“, am Knotenpunkt eines Wegenetzes – einerseits in den Süden nach Italien, andererseits über Ödenburg (Sopron) in den Osten.

Herzog Leopold V. schickte daher Fachleute auf das Steinfeld, welche die Grenzen der Stadt absteckten und mit Vermessungsarbeiten begannen. Die Längsachse der künftigen Pfarrkirche, des heutigen Domes, wurde exakt auf den Sonnenaufgang zu Pfingsten 1192 ausgerichtet. Warum Pfingsten? Eveline Klein: „Weil Herzog Leopold V. an dem Tag mit dem Herzogtum Steiermark belehnt wurde – zu dem Wiener Neustadt damals gehörte.“ Zwei Jahre später flossen fast zwölf Tonnen Silber als Lösegeld für die Freilassung des englischen Königs Richard Löwenherz in die Tasche des Babenbergerherzogs. Ein Teil des Geldes wurde für den Bau der Befestigungen der neuen Stadt verwendet.

Die mittelalterlichen Planer gliederten die Neustadt in vier Teile gleicher Ausdehnung: in das Liebfrauenviertel im Nordwesten, das Brüderviertel im Südwesten, das Predigerviertel im Südosten und das Deutschherrenviertel im Nordosten. Vier Hauptstraßen führten zu den Stadttoren. „Die Anlage lehnte sich somit an die Form eines römischen Lagers an“, erzählt Eveline Klein. In jedem Viertel erbaute man mindestens ein Gotteshaus oder eine andere kirchliche Einrichtung. Für das Zentrum war ein Marktplatz mit einer Ausdehnung von 180 mal 80 Metern vorgesehen.

Die Stadt wurde von einer fünf Meter hohen und einen Meter breiten Steinmauer umgeben, die durch massive Ecktürme verstärkt war. Eveline Klein: „Das Baumaterial kam aus den Fischauer Bergen. Man nahm Steine ganz unterschiedlicher Größe, die man in Schräglage wie eine Kornähre vermauerte.“ Schon nach 1230 erhöhte man die Mauer und errichtete zusätzlich eine niedrigere äußere Mauer, die Zwingermauer. Die vier Stadttore – das Neunkirchner, das Fischauer, das Ungar- und das Wiener Tor – wurden zusätzlich durch Türme gesichert. Für den vier Meter tiefen und zwanzig Meter breiten Stadtgraben wurde Wasser von der Schwarza abgezweigt („abgekehrt“), daher stammt der Name Kehrbach.

Die Babenberger förderten den Zuzug in die neue Stadt, indem sie ihr zahlreiche Privilegien verliehen, etwa das Marktrecht, das Münzrecht und die volle Gerichtsbarkeit“, weiß Eveline Klein. Zu den ersten Stadtbewohnern zählten vor allem Menschen aus den umliegenden Orten des Steinfeldes, die sich in der neuen, wehrhaften Stadt Wohlstand erhofften. Auch aus der Steiermark, aus Wien und aus Ungarn zogen Menschen in die neue Stadt, darunter Handwerker und Händler. Verhältnismäßig rasch wuchsen auch Burg, Kirchen und Klöster. Eveline Klein: „Ab 1230 wurde die Stadt Sitz zahlreicher Orden sowie einer großen jüdischen Gemeinde.“ Bereits im 14. Jahrhundert florierten Wohlstand und Besitz der Bevölkerung, immer mehr Bürger erwarben Weingärten im Umkreis der städtischen Mauern. Tatsächlich war der Weinhandel im Mittelalter die wichtigste Einkommensquelle der Stadt.

Übrigens: Erst ab dem 17. Jahrhundert setzte sich zur besseren Unterscheidung zu anderen Neugründungen langsam die Bezeichnung Wienerische Neustadt und schließlich Wiener Neustadt durch.

1192

Herzog Leopold V. beschließt, inmitten der Ebene des südöstlichen Steinfeldes eine stark befestigte Stadt zu gründen.

1192/93

Der englische König Richard Löwenherz wird auf Burg Dürnstein und in der Pfalz gefangen gehalten. Ein Teil des Lösegeldes – 50.000 Mark Silber bzw. fast zwölf Tonnen Silber – wird später für den Bau der „Neuenstat“ verwendet.

1194

Leopold V. stirbt überraschend mit 37 Jahren. Sein Sohn und Nachfolger Leopold VI. führt dessen Pläne weiter.

1200

Um dieses Jahr wird an der Pfarrkirche „Zu unserer lieben Frau“ und an der Stadtmauer bereits f!eißig gebaut.

1239

Die Wiener Neustädter Bürger werden von der Maut in allen Ländern des Herzogs befreit (= Mautrecht).

1279

Die spätromanische Pfarrkirche, der heutige Dom, wird geweiht.

1448

Wiener Neustadt erhält das Niederlagsrecht. Damit sind alle durchreisenden Händler verpflichtet, ihre Waren in der Stadt anzubieten.

Historikerin EVELINE KLEIN kam 1958 im südlichen Niederösterreich zur Welt. Sie studierte in Wien Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte und machte danach eine Ausbildung zur Museumspädagogin. Seit 2008 leitet sie in Wiener Neustadt das Museum St.Peter an der Sperr. Sie ist verheiratet und hat drei Söhne. Eveline Klein begleitet das Stadtmagazin historisch.