Mit dem Dom auf Du und Du
Ein „Zuagroaster“ führt Besucher seit 2019 durch den berühmten Wiener Neustädter Dom. Mit viel Hingabe erzählt der 81-jährige Werner Hessler von bösen Geistern, kosmischen Zahlen und absichtlichen „Baufehlern“.
Wer Werner Hessler zuhört, könnte meinen, er habe sein ganzes Leben in Wiener Neustadt verbracht. Der 81-Jährige kennt die Stadt und ihre Geschichte wie kaum ein anderer. Doch weit gefehlt: Er wuchs im Salzburger Pinzgau auf und zog später nach Vorarlberg, wo er in Bregenz die HTL für Maschinenbau absolvierte. Nach mehr als vierzig Jahren Tätigkeit für große internationale Unternehmen ging er 2007 in Ruhestand.
Auf der Suche nach einer Bleibe für den Lebensabend fiel die Wahl auf Wiener Neustadt. „Meine Frau und ich haben sieben Jahre lang nach einem schönen Stück Österreich mit viel Vergangenheit gesucht“, erzählt Werner Hessler. Um einen Bezug zur neuen Heimat zu bekommen, legte er alle notwendigen Prüfungen ab und fungiert seit dem Jahr 2019 als offizieller Stadtvermittler. „Es ist die ideale Beschäftigung für mich, eine Bereicherung und Herausforderung in der Pension.“ Das religiöse Wiener Neustadt, die Welt der Kirchen und Klöster, ist sein Steckenpferd. „Seit Kindheitstagen gehört meine Liebe den Gotteshäusern“, erzählt er. „Der Glaube gab mir Halt in den schlimmsten Momenten meines Lebens.“ Der nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernte Dom ist sein Kraftplatz geworden, ihm fühlt er sich spirituell verbunden. „Man spürt die Energie. Hier wurde jahrhundertelang gebetet, gelebt, geliebt. Diese Energie geht nicht verloren.“
Seine Runde beginnt Werner Hessler stets beim Museum St. Peter an der Sperr, von dem man die Nordseite des Doms überblickt. Der Norden, erklärt Werner Hessler, sei die Seite der bösen Geister; der Westen jene der sündigen Welt. Der Osten symbolisiere den Himmel. Und südlich des Doms wurden über Jahrhunderte die Verstorbenen begraben. Der Friedhof wurde 1781 aufgelassen und ist heute ein Kinderspielplatz. Werner Hessler ist nun in seinem Element, zitiert aus Goethes „Faust“ und deutet die Symbolik von Zahlen und Figuren. Die Zahl Acht stehe für ewiges Leben, für die Auferstehung. Zwölf wiederum sei die vollkommene, göttliche Zahl. Der Löwe an der Fassade des Doms sei Symbol für den bezwungenen Teufel, der Drache für die ungläubige Welt und die Schlange für die Erbsünde.
Inzwischen haben Werner Hessler und seine Gruppe das Gotteshaus betreten. „Warum ich den Dom so liebe?“, fragt Werner Hessler und gibt gleich selbst die Antwort: „Weil er so außergewöhnlich ist. Er ist das Herz und die Seele der Stadt. Allein schon die Geschichte seiner Gründung!“ Die Längsachse des Doms wurde exakt auf den Sonnenaufgang zu Pfingsten 1192 ausgerichtet. Dies geschah, weil Herzog Leopold V. genau an diesem Tag mit dem Herzogtum Steiermark belehnt wurde, zu dem Wiener Neustadt damals gehörte. Der Bau des heutigen Doms begann Anfang des 13. Jahrhunderts, die Bauzeit betrug fast achtzig Jahre. Am 27. März 1279 wurde die Kirche zu Ehren der heiligen Jungfrau Maria und des heiligen Rupert geweiht.
Die Kirche bestand damals aus dem heutigen Langhaus, dem Mittelschiff und den Türmen im Westen. „Das Mittelschiff der Kirche entsprach einer römischen Markthalle“, erzählt Werner Hessler, „hier fanden früher auch weltliche Versammlungen statt.“ Ab 1469 war Wiener Neustadt mehr als 300 Jahre lang Bischofssitz. Werner Hessler: „Der erste Bischof brachte 82 Bücher mit. Das war damals ein gewaltiger Schatz.“ Der Wirkungsbereich der damaligen Bischöfe beschränkte sich aber lediglich auf das Stadtgebiet. 1785 löste Kaiser Joseph II. das Bistum Wiener Neustadt wieder auf.
„Die Kirche war ein Wunder der damaligen Zeit, ein Gotteshaus von europäischer Größe“, schwärmt Werner Hessler. Das Baumaterial kam aus den Steinbrüchen bei Bad Fischau, die Poliere, die den Dom errichteten, stammten aus der Lombardei. Besonders bemerkenswert sind die beiden Kaiseremporen, die Friedrich III. anlässlich der Annahme seiner Wahl zum römisch-deutschen König im Jahr 1440 errichten ließ. Werner Hessler: „Zur Proklamation im Dom kamen 3.000 Menschen – jeder, der im Reich Rang und Namen hatte!“ 17 Jahre lang residierte Friedrich III., der Vater von Maximilian dem letzten Ritter, in Wiener Neustadt. Er gilt als der Herrscher, der am meisten Wohl über die Stadt brachte. Ja, man lernt einiges bei einer Domführung mit Werner Hessler.
Etwa, dass die beiden 64 Meter hohen Türme 1886 abgetragen werden mussten, weil sie nach etlichen Erdbeben baufällig geworden waren. Bis 1899 wurden sie getreu den alten Plänen wieder aufgebaut. Oder dass die Kirche insgesamt 16 Mal ausgemalt wurde. So kam es auch, dass das mittelalterliche Bildnis des Jüngsten Gerichts oberhalb des Triumphbogens über Jahrhunderte übermalt war. Erst 1912 stieß man durch Zufall auf das Gemälde. Oder auch, dass der Dom als eines von nur 18 Gebäuden in Wiener Neustadt den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstand. Lediglich im Südturm schlug eine deutsche 8,8-Zentimeter-Flak ein. Und dass die schönen gotischen Glasfenster im Barock wahrscheinlich ans Stift Neukloster verkauft wurden. Heute befinden sich diese in Museen in Wien, Berlin, Glasgow und New York.
Seine Führung beendet Werner Hessler nach eineinhalb Stunden beim romanischen Südtor, dem sogenannten Brauttor. Es ist dies ein prächtiges Rundbogenportal aus dem 13. Jahrhundert, reich geschmückt mit normannischen Motiven. Der 81-Jährige betont die Symbolik und Mystik des Tores. Und er erzählt von einem absichtlich eingebauten „Fehler“ im Rundbogenfries. Wieso dies geschah, sei hier nicht verraten. Denn Werner Hessler freut sich darauf, das Geheimnis bei seinen nächsten Führungen zu lüften.