Wo man Töne sehen kann
Ein Liederabend mit einem pinseltanzenden Maler. Ein Konzert in völliger Dunkelheit. „Der kleine Prinz“ mit Musik und Sandbildern, die wie von unsichtbarer Hand gezaubert werden: Das Milch x Honig-Festival in Wiener Neustadt bringt acht Konzerte auf die Bühne, die man so noch nie erlebt hat.
Christoph Zimper mag klassische Musik. Klar, etwas anderes erwartet man auch nicht von einem Klarinettisten und einem ziemlich guten noch dazu: Der 36-Jährige aus Markt Piesting hat für international renommierte Orchester gespielt und unter anderem eine Professur an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien inne. Doch eine Sache hat Zimper immer schon gestört – nämlich, wie Konzerte abgehalten werden. „Ich glaube wahnsinnig an die Kraft von klassischer Musik. Aber Musik passiert nun mal im Moment – und der Moment ist etwas, in den alles einfließt. Es geht nicht nur um das gespielte Werk und darum, andächtig lauschend in einem Saal zu sitzen. Was sehe ich? Was fühle ich dabei? Wo und wie sitze ich? Kurz: Warum kann man Musik nicht als Gesamterlebnis inszenieren?“ Eben.
Also entwickelte Christoph Zimper eine neue Festivalreihe in Wiener Neustadt – er hatte bereits als Mitbegründer und künstlerischer Leiter des „Weissensee Klassik Festivals“ in Kärnten bewiesen, dass er das kann. Und als Intendant und Mastermind war für ihn sofort klar: Nur Musik wird’s nicht spielen. Da geht mehr. „Weissensee ist über die Jahre zu einer Spielwiese für viele Künstler und Musiker geworden. Darauf baue ich auch.“ In Wiener Neustadt will Zimper klassische Musik auf ein neues Level heben – mit acht Konzerten, die man so noch nicht erlebt. hat. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Beim „Milch x Honig“-Festival, das zwischen 14. April und 12. Mai in und um die Kasematten stattfindet, geht’s für ihn um nichts weniger, als Töne zu sehen, Bilder zu hören und Tanz zu spüren.
Wie man sich das vorstellen kann? Als Feuerwerk für die Sinne. So steht zum Beispiel für die Eröffnung „Der kleine Prinz“ auf dem Spielplan. Der Literaturklassiker des französischen Autors Antoine de Saint-Exupéry wird von Zimpers Schwester, Ö1-Moderatorin Daniela Knaller, vorgetragen. Die Rolle des kleinen Prinzen liest dabei ihre siebenjährige Tochter Nora und als musikalische Untermalung dienen Eigenkompositionen von Zimper und fünf weiteren Musikern. Doch weil man das Herz nicht nur über Worte und Töne erreicht, wird die Erzählung auch mit – wie von unsichtbarer Hand gemalten – Sandbildern der Künstlerin Anna Vidyaykina zum Leben erweckt. Ein mitunter fast magisches Spektakel, denn da verwandelt sich plötzlich mit einer einzigen, großen Wischbewegung ein Gesicht in eine Rose oder in einen Vogelschwarm. Alles fließt ineinander und ergibt etwas Neues und Ganzes.
Diese Symbiose beschreibt auch gut, warum der Festivaltitel „Milch x Honig“ gewählt wurde. „Milch und Honig gehen nahtlos ineinander über, sie ergeben zusammen etwas sehr Geschmeidiges“, erklärt Intendant Christoph Zimper. „Es soll nicht nur Konzertfestival sein, sondern alle Künste miteinbeziehen.“ Ein Denkansatz, der Anklang findet: Eben beschriebene Inszenierung von „Der kleine Prinz“ soll 2024 auch im Wiener Musikverein und allenfalls außerhalb Österreichs aufgeführt werden. Von Wiener Neustadt in die große, weite Welt hinaus. Apropos Welt: Diese bringt Marlis Petersen, die international gefeierte Sopranistin, in die Kasematten. Bei „LiederMalen“ tritt sie – begleitet von Klavier und Klarinette – auf die Bühne, während zum Rhythmus der Musik ein Pinseltanz zu bestaunen ist. Konkret wird der Düsseldorfer Performance-Künstler und Bildhauer Horst Gläsker das Publikum in einen überdimensionalen Farbrausch versetzen, sowohl digital als auch mit einem live entstehenden Gemälde.
Wem der Sinn nach weniger optischen Reizen steht, der sollte vielleicht beim „Silent Concert“ oder bei „Concert in the Dark“ vorbeischauen. Ersteres kann man sich wie ein Picknick-Klavierkonzert vorstellen, im Outdoor-Bereich bei den Kasematten. Mit dem Eintrittsticket werden Kopfhörer gestellt – und gegen einen Aufpreis kann man Picknickkörbe vorbestellen. Zimper sieht das Ganze als Familien-Event: Die Kinder können spielen und herumtoben, während die Eltern mit dem Kopfhörern die Musik genießen. Und nein, keine Sorge, Pianistin Maria Radutu ist nicht beleidigt, wenn sie nicht in jeder Sekunde die volle Aufmerksamkeit bekommt: „Es geht darum, neues Publikum an die Musik heranzuführen.“ Bei „Concert in the Dark“ wiederum, das vom Berliner Vision String Quartet aufgeführt wird, dreht sich alles ums Fühlen der Töne. Musiker und Publikum sitzen dabei in absoluter Finsternis, man sieht Hand vor Augen nicht. „Man ist quasi allein mit sich selbst, mit dem eigenen Atem und mit der Musik, die noch unmittelbarer in uns hineindringen kann, weil der visuelle Faktor fehlt“, so Zimper. Die Stücke, die das Vision String Quartet übrigens komplett auswendig spielen muss, sind ganz bewusst gewählt: „Wenn schon Dunkelheit, dann richtig dunkel“, lacht Zimper. „Das 8. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch ist wahrscheinlich die epochalste Kammermusik der Musikgeschichte, und es kann sein, dass das manche überfordern wird. Aber besser so, als dass die Konzerte langweilen. Zum Runterkom men gibt’s dann Maurice Ravel.“ Kurz: Langweilig wird’s an den Wochenenden zwischen Mitte April und Mitte Mai definitiv nicht.